Andreas saß im Zug, am Fenster eines Vierer-Abteils, als eine Frau ihren Kopf hinter seinem Sitz emporstreckte und sagte:
„Ich bin Wahrsagerin. Und was ich Ihnen sagen kann… Sie werden sterben. Und zwar in fünf Minuten. Genau dann, wenn der Zug die Endstation erreicht hat. Das ist die Zeit, welche Sie noch haben.“
Andreas stand auf, lief zur elektronischen Anzeigentafel. Was die Frau sagte, stimmte nicht, die Endstation erreichte er erst in zehn Stunden. Doch dann änderte sich auf der Anzeigentafel der Text und informierte darüber, dass der Zug außerplanmäßig in fünf Minuten halten würde.
Genauso auch die Durchsage des Lokführers: Außerplanmäßiger Halt in fünf Minuten.
Das konnte doch nicht wahr sein!
Andreas sprach über eine der Sprechanlagen mit dem Lokführer persönlich:
„Wieso hält der Zug außerplanmäßig?“
„Mein Junge, es ist wegen dir.“, plärrte es aus dem Lautsprecher. „Und wie ich gehört habe, weißt du Bescheid. Also, mach was draus!“
„Was machen?“
„Aus deinen letzten fünf… äh, vier Minuten.“
„Verfickte Scheiße! Hören Sie, das glaube ich Ihnen nicht!“
„Das wirst du ja sehen. Also, los gehts!“
Los gehts? Andreas dachte einen Moment nach, spürte dann aber ein Kribbeln in seinem Brustkorb. War das schon das Anzeichen dafür, dass seine Seele diesen Menschenkörper verlassen wollte? War es ähnlich dem Vorglühen einer Rakete, die ins All geschossen wurde?
Was sollte er tun?
Er nahm sein Handy, nahm eine Sprachnachricht auf.
„Hallo ihr Lieben. Was ich euch sagen möchte… ich habe jede Sekunde mit euch genossen. Aber ich habe mit euch viel zu wenig gelacht. Und jetzt, im Angesicht meines Todes, wird mir klar, ich habe auch viel zu wenig geweint. Zwar habe ich geweint wegen eurer Vergänglichkeit, heimlich und alleine, ohne dass ihr jemals etwas davon mitbekommen habt. Aber jetzt wünschte ich, geweint zu haben, in eurer Gegenwart. Ich wünschte, ihr hättet mich weinen gesehen. Ich habe viel zu wenig geweint… Vergänglichkeit… jetzt bin ich damit konfrontiert. Ach, und danke an meine Ex, Maria, für ihre ehrliche und bedingungslose Liebe. Zumindest bis zu dem Tag, an dem sie mich verließ. Hätte Maria sich nicht von mir getrennt, wäre ich nicht der, der ich jetzt bin. Ich… habe ihr viel zu verdanken.“
Die Anzeigentafel zeigte bis zur Endstation noch zwei Minuten.
„Ich weiß nicht, wie es mit mir gleich weitergeht, aber ich liebe euch alle.“
Dann sendete Andreas die Sprachnachricht an all seine im Handy hinterlegten Kontakte.
Die letzte Minute.