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Handsome

„Das sind ja einige gutaussehende Hände!“, sagte Curt im Vorbeigehen dem Obdachlosen, stoppte, wollte sich das genauer ansehen. Die Hände – es waren zwei abgehackte Männerhände – befanden sich in einer leeren und saubergespülten Dose passierter Tomaten.

Die Hände waren zu einhundert Prozent natürlich, sicherlich genauso wie die in der Dose zuvor befindlichen passierten Tomaten. Die Haut der Hände war makellos, wohl weil der ursprüngliche Besitzer keine harte, körperliche Arbeit verrichtet hatte und regelmäßig eine Hautcreme benutzte.

Der Obdachlose blickte zu Curt rauf, und dieser tat sich augenscheinlich schwer, Curt zu fokussieren. So wusste Curt, dass vom Obdachlosen keinerlei Gefahr auszugehen schien. Sollte er versuchen, ihn anzuspringen, machte er einfach fix wie auf Kokain einen Satz zurück.

Leider sprach der unentwegt sprechende Obdachlose seine Sprache nicht.

Dann blickte Curt sich um: Jeder der anderen Obdachlosen hier am Straßenrand besaß noch seine Hände – wenn auch voller Dreck, etwaigem Wundschorf und eitrigen Stellen.

Blick auf die Uhr: Noch zehn Minuten. Zu seinem Arbeitsplatz brauchte Curt von seinem jetzigen Standort aus nur eine Minute. Dort für die Zeiterfassung pünktlich einzustechen, war außerordentlich wichtig.

„Vielleicht erreichen dich meine Worte ja doch… irgendwo in deinem Unterbewusstsein.“, sagte Curt, „Ich finde es bezeichnend, dass es niemanden kümmert.“

Unentwegt sprach der Mann etwas, drückte die abgeschlagenen Hände tiefer in die Dose.

„Ich meine diese Hände in der Dose. Es kümmert hier niemanden. Und der ursprüngliche Besitzer hatte gewiss mit zwei arteriellen Blutungen zu kämpfen. Ob er das wohl überstanden hat?“

Der Obdachlose schrie ein Wort, sein Körper zuckte wie bei einem Schluckauf, blickte Curt dann regungslos an.

„Okay. Dann hast du wohl einen sehr guten Job gemacht. Die Schnittführung an den Handgelenken der Hände… schätze, du hast eine Machete benutzt, oder? Ein Hieb, und ab. Chop Chop. Und der Typ, dem die Hände gehörten, hat vielleicht auch einige zusätzliche Hiebe von dir verpasst bekommen. Und ist jetzt sowas wie… tot.“

„Tot! Tot!“, sagte der Mann nickend.

Ein anderer Mann torkelte heran, in seiner Hand eine Flasche Doppelkorn, und setzte sich neben Curts Gesprächspartner.

Noch vier Minuten, dann musste Curt los, weiter zur Arbeit.

Auch der andere Typ mit dem Schnaps sprach eine für Curt unbekannte Sprache, aber immerhin verständigten sich die beiden untereinander.

Curt nahm sein Handy, filmte die beiden in einer Auflösung von 32K.

Um die Aufnahme nicht zu verhunzen und alles einfach so authentisch wie möglich zu halten, kommentierte Curt die Szenerie nicht.

Dann öffnete der Neuankömmling die Schnapsflasche und füllte die Dose passierter Tomaten mit den darin befindlichen Händen damit auf. Sogleich färbte sich der eigentlich klare Doppelkorn rot, und als der andere die Hände mit ausgestrecktem Zeigefinger scheinbar mit aller Kraft hinab drückte, verfärbte sich der Schnaps weiter zu dem gleichen Rot wie hundertprozentiger Blutorangensaft.

Er fragte sich, wofür das hier alles gut sein sollte. Wollten Sie die Hände vielleicht Essen? Die wenige Haut und das Fleisch vermochte man auch so von den Knochen zu nagen. Dieser erste Schritt in der vermeintlichen Zubereitung, welchen Curt hier beobachtete und filmte – ihm erschloss sich einfach nicht, wohin das alles führen sollte.

Curt musste los, stoppte die Aufnahme. Gerne hätte er hier ein Stativ aufgestellt, sein Handy angeklemmt und es optimal ausgerichtet, um alles bis zum Schluss zu dokumentieren, aber so blieb ihm keine andere Wahl als das Rätsel der gutaussehenden Hände ungelöst hinter sich zu lassen.