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Im Schoß der Chili

Gerade als Josef es sich vorm PC gemütlich machte und gepflegt Chili-Chips konsumieren wollte, klingelte sein Handy – auf dem Display die Erinnerung, seinen Sohn aus dem Kindergarten abzuholen.

Schnell die ultrascharfen Chili-Chips weggemacht, zweifellos viel zu gefährlich für seinen vierjährigen Sohn, und dann Schuhe an, Schnürsenkel in die Seite reingedrückt und raus vor die Tür, auf zum Fünf-Minuten-Fußmarsch.

Aus nicht unerfindlichen Gründen und noch in entsprechender Stimmung dachte er an die Erzieherinnen im Kindergarten. Josef rief sich alle in Erinnerung: Lisa und Emma, Isabelle und Sophie, Anna, Lara und auch Sarah. Und obwohl er mit ihnen bislang nur in beiläufigem zwischenmenschlichem Austausch stand, betörten ihn die bloßen Gedanken an ihre Art, ihr Wesen, wie sie sich gaben – jede betörte ihn in ihrer einzigartigen Weiblichkeit.

Gerade im Außenbereich des Kindergartens angelangt, erfasste Josef sogleich den Aufenthaltsort seines Sohnes Jack im Sandkasten und sah, wie der Junge daneben, ihm nicht nur das Förmchen aus der Hand riss, sondern ihn auch umschubste.

„Hey!“, rief Josef, lief im Sauseschritt heran, bemerkte noch einen umherfliegenden Schnürsenkel zwischen seinen Füßen, und beim nächsten Schritt zog es ihn schwungvoll zu Boden: ein Aufschlag, sein Kinn, zusammenschlagende Zähne, mitten auf eine Mixtur aus Sand, Gras und roten Ameisen.

Josef spuckte, ignorierte die Schmerzen, und blickte über den Boden, um in dreißig Metern Luftlinie zumindest schonmal seinem Sohn dabei zuzusehen, wie dieser sich aufraffte und dem anderen Jungen eine pfefferte.

„Jack, ja! Gut gemacht!“, rief Josef, und der andere Junge verdeckte weinend sein Gesicht.

Gerade als Josef seinen Kopf aufzurichten versuchte, schritt eine Frau direkt über ihn hinweg, streifte mit ihrer Schuhsohle grob seinen Hinterkopf. Immerhin Sneakers und tolle Beine. 

„Nein, das war nicht gut!“, sagte die Frau, ohne sich nach ihm umzusehen. „Wir sind doch nicht bei einem Boxkampf!“

Beim genauen Blick von hinten vermochte Josef nicht bestimmen, um welche Erzieherin es sich handelte. Noch nie gesehen. Aber sie befand sich definitiv in Kriegslaune.

Josef klopfte sich sauber, erreichte den Sandkasten. Darin eine gut konstruierte, aber auch teilweise beschädigte und mit Schuhprofilen versehene Sandburg.

„Papa, er hat auch meine Sandburg kaputt gemacht.“, sagte Jack.

„Ja, aber das ist kein Grund, Gewalt anzuwenden.“, entgegnete die Frau, nahm den weinenden Jungen in den Arm.

„Sind Sie eine Erzieherin? Ich habe Sie hier noch nie…“

Grüne Augen, kein Make-up, nur etwas Lippenstift, und Josef geriet etwas ins Wanken, als stünde er das erste Mal auf einem Skateboard. Ihm wurde sogar etwas übel, entweder vom Sturz, oder weil ihm die Frau einfach nur gefiel.

„Ich bin die Mutter von Kevin. Und Gewalt ist niemals richtig.“

Sie trug keinen Ehering, dafür aber Ohrringe mit blauen Topas-Edelsteinen darin.

„Aber er hat angefangen.“, sagte Jack und kümmerte sich um seine beschädigte Sandburg.

„Na, da hören Sie es. Ihr Sohn Kevin hat angefangen.“

„Ist alles in Ordnung?“, fragte eine Erzieherin von irgendwo hinter Josef. Der Stimme nach, Josef wusste es ganz genau, musste es Emma gewesen sein.

„Ich bekomme das hin.“, sagte Kevins Mutter, strich ihrem immer noch weinenden Sohn über den Rücken. Sie ließ Josef nicht aus den Augen, blickte ihn unvermittelt an, als erwarte sie eine Entschuldigung.

Und dann strich sie sich selbst einmal durchs Haar.

„Ich werde mich nicht entschuldigen. Aber… Josef.“, sagte er, reichte ihr die Hand. „Wie heißen Sie?“

Sie reichte ihm die Hand, er umfasste diese, aber sie zog sie sogleich wieder zurück.

„Wie ich heiße, ist egal.“, antwortete sie, und als ein kleines Lächeln in ihrem Mundwinkel entstand, schüttelte sie irritiert ihren Kopf.

„Also, ich habe sogar gesehen, wie ihr Sohn Kevin meinem Sohn Jack das Förmchen aus den Händen gerissen hat. Und dann hat er ihn sogar umgeschubst.“

„Sie reden ja selbst wie ein Kind.“

„Gut. Aber mein Sohn Jack hat sich richtig verhalten.“

„Nennen Sie mir einen triftigen Grund für Gewalt.“, forderte sie ihn auf.

„Gern. Wie wär`s mit Diebstahl?“

„Es war trotzdem falsch.“

„Wenn Sie mir jetzt nicht ihren Namen verraten, nenne ich Sie von jetzt an Marie.“

„Ts, genauso hohl wie ihr Name… Josef… Wollen Sie mich etwa belehren?“

„Vielleicht nur bekehren, doch Sie sind ganz schön stur. Aber ich gebe nicht auf. Also: Ihr Sohn war gewalttätig. Mein Sohn hat sich nur gewehrt. Ihr Sohn hat angefangen.“

„Und Sie spinnen!“

„Ich spinne nicht. Ich bringe meinem Sohn nur bei, was richtig ist und was falsch. Ihm wurde das Förmchen genommen. Und ihr Sohn wollte meinem Schaden. Er hat richtig gehandelt.“

„Ihre Frau würde das bestimmt nicht so sehen.“

„Hm, bin Geschieden. Sie auch?“

„Das geht Sie gar nichts an.“

Kevins Heulkrampf legte sich etwas, und Marie nickte, biss sich auf die Unterlippe, beendete ihre Mimik mit einem Kopfschütteln und verdrehte die Augen.

Das Geplänkel mit Marie – definitiv besser als der Konsum von Chili-Chips am PC.

„Okay, das Förmchen einfach so abzunehmen, war falsch. Das werde ich Kevin später noch erklären. Aber es war auch falsch, sich so zu wehren. Sagen Sie das Ihrem Sohn! Jetzt!“, befahl sie.

„Nein, das mache ich nicht. Denn es wäre sogar noch schlimmer, sich gar nicht zu wehren.“

„Hat man Ihnen das Gehirn genommen?“, fragte Marie, wandte sich mit ihrem Sohn im Arm ab, als wolle sie gehen.

„Hat man Ihnen das Gehirn genommen?“, plapperte Josef nach.

Jack kicherte, pflanzte ohne aufzusehen, einen neuen Turm auf die Burg.

„Sind Sie jetzt ein Graupapagei geworden?“, wollte sie wissen.

Sie wandte sich Josef wieder zu, musterte ihn.

„Gibt es an mir was Besonderes zu begutachten?“

„Sie können mit ihrem gewalttätigen Sohn hier jetzt ruhig verschwinden.“

„Nein.“, antwortete Josef, sah sie grinsend weiter an, bis sie herabsah. „Ich bleibe hier, genauso wie Sie. Gehen Sie doch weg! Außerdem baut mein Sohn noch an seiner Sandburg.“

Marie versuchte, ihr Lachen zu verkneifen, schüttelte wieder ihren Kopf wie über ein Dreißig-Euro-Bußgeld.

„Sie sind kein erwachsener, reifer Mann, sondern ein kleines Kind. Gut, dann weiß ich es jetzt ja.“

„Tja, Madame, das tut mir nicht leid.“

Nachdem Marie das Gesicht ihres Sohnes sondiert hatte – es existierte keine Fleischwunde – nahm sie Kevin an die Hand und meinte:

„Hoffentlich sehe ich Sie hier nie wieder.“

„Das hoffe ich auch.“

Dann stapfte Marie davon.

„Papa, du grinst ja.“, sagte Jack.

„Allerdings. Weil ich glaube, dass Marie mir soeben etwas gestohlen hat.“, sagte Josef, versuchte, mit seinem Zeigefinger den Schnürsenkel seitlich in den Schuh zu bekommen, stocherte auf diesen ein, bis dieser zumindest nur noch zur Hälfte heraushing, und beließ es dann dabei.